„Was? Kannst du das noch mal sagen?“ Wenn Kinder plötzlich nicht mehr richtig hören, kann das an vergrößerten Polypen liegen. Manchmal fällt auch zuerst dem Kinderarzt oder den Erzieherinnen im Kindergarten auf, dass die Kleinen sehr nasal sprechen und häufig mit offenem Mund dastehen. Was Polypen genau sind und wann Eltern über eine Operation nachdenken sollten, darüber haben wir mit der HNO-Ärztin Doktor Ines Weinzierl gesprochen.
Frau Doktor Weinzierl, sehen Sie viele Kinder mit Polypen-Problemen in Ihrer Praxis?
In den vergangenen Monaten habe ich tatsächlich ungewöhnlich viele Kinder behandelt.
Woran liegt das?
Ich kann da nur mutmaßen. Die letzte Erkältungswelle und auch die Corona-Pandemie haben viele Probleme mit Polypen verursacht. Als die Maßnahmen gelockert wurden, haben viele Kinder einen Infekt nach dem anderen nachgeholt. Die Abwehrkräfte beziehungsweise das Abwehrgewebe kam überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Das führte auch zu vergrößerten Polypen.
Was sind Polypen überhaupt?
Wenn wir bei Kindern von Polypen sprechen, meinen wir eigentlich die Rachenmandel. Sie liegt hinter dem Gaumensegel oben am Rachendach und ist ohne Endoskop nicht sichtbar. Im Grunde ist das ein einzelnes Polster aus lymphatischem Abwehrgewebe. Ist das Immunsystem sehr gefordert, kann sich dieses Gewebe extrem vergrößern. Die korrekte medizinische Bezeichnung dafür lautet Adenoide.
Haben Erwachsene das nicht mehr?
Erwachsene haben eigentlich keine sichtbaren Adenoide mehr. Das Gewebe bildet sich zurück. Mit zunehmendem Wachstum der Kinder wird es immer flacher, weil die immunologische Beanspruchung nachlässt und auch weil der Rachen ja im Laufe des Wachstums immer größer wird. Polypen bei Erwachsenen sind etwas grundsätzlich anderes. Dabei handelt es sich um Schleimhautwucherungen, die auf entzündliche Prozesse in der Nase und den Nebenhöhlen zurückgehen.
Doktor Ines Weinzierl, Jahrgang 1976, ist Fachärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Allergologie. Nach ihrem Studium arbeitete sie zunächst an einer großen HNO-Klinik für Kinder in Stuttgart. Seit 2016 führt sie eine Privatpraxis in Nürnberg. Sie ist verheiratet und Mutter von Zwillingen.
Foto: Tilman Weishart
Was passiert bei einem Infekt mit den kindlichen Polypen?
Zunächst einmal: Jedes Kind hat Adenoide, Polypen. Das ist etwas ganz Natürliches. Die Rachenmandel ist so was wie der lymphatische Wächter hinter der Nase. Alles was wir einatmen, muss dort vorbei. Hat die Rachenmandel mit vielen Krankheitserregern zu kämpfen, vergrößert sie sich. Wenn sich das Immunsystem dann im Kindesalter ausreichend ausgebildet hat, zieht sich das Gewebe langsam wieder zurück.
Eine vergrößerte Rachenmandel beziehungsweise vergrößerte Polypen sind also an sich kein Grund zur Besorgnis. Wann sollten Eltern zum Arzt?
Sehr häufig machen sich vergrößerte Polypen mit Ohrproblemen bei den Kindern bemerkbar. Die Belüftung über die Eustachische Röhre, also die Verbindung zwischen Nasenrachenraum und Mittelohr, kann durch eine vergrößerte Rachenmandel behindert werden. Es bildet sich Schleim im Ohr und die Kinder hören nicht mehr richtig. Man spricht dann auch von Paukenerguss. Sie hören dann ungefähr so, als hätten sie ständig Ohropax in den Ohren.
Gibt es weitere Anzeichen?
Diese Kinder haben auch überhäufig Mittelohrentzündungen und sind allgemein anfällig für Infekte. Natürlich leidet auch die Nasenatmung. Viele Kinder schnarchen laut, haben sogar Atempausen beim Schlafen und atmen nur noch durch den Mund. Manche essen und trinken nicht mehr richtig, weil sie Schwierigkeiten haben, gleichzeitig zu essen und zu atmen. Sie sind dann oft zu klein und leicht für ihr Alter.
Es gibt sogar den Ausdruck Polypengesicht. Gemeint ist, dass sich die Gesichtsform des Kindes durch die vergrößerten Polypen verändert. Ist da was dran?
Da die Kinder immer durch den Mund atmen, stimmt die Ruhelage der Zunge nicht mehr. Sie liegt zu tief. Dadurch bildet sich ein schmaler Spitzgaumen. Deswegen wirken Kinder mit vergrößerten Polypen oftmals sehr schmal im Mittelgesicht. Steht dann noch der Mund dauerhaft offen, streckt sich das Gesicht optisch noch weiter. Werden die Polypen entfernt, normalisiert sich das in der Regel. Zum Teil müssen Kinder aber angeleitet werden, wieder durch die Nase zu atmen. Manche brauchen kieferorthopädische Unterstützung.
Muss man denn sofort operieren? Was sind die Alternativen?
Es gibt Sprays, die abschwellend und antientzündlich wirken. Außerdem existieren gute pflanzliche Präparate, die den Schleim im Ohr verdünnflüssigen. Bessert sich der Zustand aber über vier bis sechs Wochen nicht, ist eine Operation angeraten. Die Jahreszeit spielt ebenfalls eine Rolle. Wird im Frühjahr eine Diagnose gestellt, kann man auch mal abwarten, wie sich die Polypen entwickeln, wenn die Witterung besser wird und die Infekte in der Kita nachlassen. Kommt ein Kind aber im Herbst mit einem Paukenerguss und leidet im Winter immer noch darunter, hat es keinen Sinn, es bis zum Frühjahr durchzuschleppen.
Grundsätzlich würden sich die Polypen aber irgendwann von allein zurückbilden?
Die ersten zwei Winter in der Kita haben Kinder wahnsinnig viele Infekte. Das wird jede Mutter bestätigen. Nach dieser Zeit hat der Körper ein Grundrüstzeug an Abwehrkräften. Mit spätem Kindergartenalter und Eintritt in die Schule haben dann die wenigsten Kinder noch Probleme mit den Polypen. Wenn das Warten aber zu lange dauern würde, man nach sechs Wochen medikamentöser Therapie keine Besserung sieht, rate ich zur Operation. Die Defizite, die Kinder durch vergrößerte Polypen entwickeln, müssen mühsam wieder aufgeholt werden. Hören Kinder monatelang schlecht, ist das für die sprachliche Entwicklung äußerst ungünstig. Auch wenn sie schlecht schlafen, nachts Atempausen haben und deswegen tagsüber unglücklich und schlecht gelaunt sind, steht das in keinem Verhältnis zu der recht einfachen OP.
Wie läuft die Operation ab?
Es ist ein ambulanter Eingriff, der in der Regel nicht länger als eine Viertelstunde dauert. Ich habe früher selbst viel operiert. Von der Ankunft in der Praxis bis zum Verlassen müssen Eltern mit etwa drei Stunden rechnen. Das Kind bekommt eine leichte Narkose. Die Polypen werden durch den Mund aus dem Nasenrachenraum ausgeschält. Dann schaut sich der Arzt die Ohren an. Gegebenenfalls werden kleine Schnitte in die Trommelfelle gemacht, um das festsitzende Sekret abzusaugen. Ist das Sekret sehr zäh und schleimig, wird ein kleines Röhrchen eingesetzt, damit sich der Belüftungsschnitt nicht zu schnell wieder verschließt.
Leidet die Immunabwehr des Kindes, wenn die Polypen entfernt wurden?
Überhaupt nicht. Die Polypen werden nicht komplett entfernt. Es bleibt auf jeden Fall eine Schicht Abwehrgewebe übrig. Außerdem haben wir im Rachen noch anderes Abwehrgewebe, nämlich die Seitenstränge, die Gaumenmandeln und diffus im Rachen versprenkeltes lymphatisches Gewebe.
Können Polypen nachwachsen?
Wenn sehr junge Kinder im Alter von eineinhalb bis zwei Jahren operiert werden, können sich die Polypen im Laufe der Zeit wieder deutlich vergrößern. Einfach weil ihnen noch eine Reihe an Infekten bevorsteht. Die Wahrscheinlichkeit ist aber nicht besonders groß. Und dieses geringe Risiko sollte kein Argument sein, von einer angeratenen OP abzusehen.
Was sind Ihre Erfahrungen, stecken Kinder den Eingriff gut weg?
Total. Und viele Eltern, die vor der Entscheidung mit sich gerungen haben, sind in der Regel danach sehr, sehr glücklich. Sie merken, dass ihre Kinder einen Riesensprung machen. Die Beschwerden werden schlagartig besser. Kinder schlafen ruhiger, hören plötzlich besser und sind fröhlicher.
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