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Wie ist es wirklich, ein hochsensibles Kind zu haben?

Hier ist ein Mädchen zu sehen, dessen Gesicht halb von einem Blatt verdeckt ist. Symbolbild zum Thema hochsensibles Kind
Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten

Lange hat sich Melanie dagegen gewehrt, ihr Kind als hochsensibel zu bezeichnen. Inzwischen hat sie sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und kann die Besonderheiten ihrer Tochter besser verstehen. In einem unserer letzten Beiträge haben wir erklärt, was sich hinter dem Begriff Hochsensibilität verbirgt. Hier erzählt Melanie nun, was es für den Familienalltag bedeutet, ein hochsensibles Kind zu haben.

Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Baden-Württemberg. Tochter Mara* ist sieben.

*Name von der Redaktion geändert.

Schon im Kindergarten gilt Mara als sensibel

„Drei Sandkörner im Schuh können bei uns ein Drama auslösen. Diese drei Körnchen stören unsere Tochter kolossal. Sie jammert, motzt, weint – bis wir jedes einzelne gewissenhaft aus dem Schuh geschüttelt haben. Ihr kleiner Bruder dagegen kann den halben Sandkasten mit sich herumschleppen, ohne ein Wort zu sagen. Mara ist auch super schmerzempfindlich. Stößt sie sich nur leicht das Knie, bricht sie in Tränen aus. Wenn sie Hunger hat, braucht sie sofort etwas zu essen. Dann kann man mit ihr nicht verhandeln. Sie bricht richtig zusammen und wird sehr weinerlich. Im Vergleich zu ihrem Bruder braucht sie auch viel mehr Pausen und Rückzugsmöglichkeiten.  

Auf die Idee, dass Mara hochsensibel sein könnte, bin ich erst zwischen ihrem dritten und vierten Lebensjahr gekommen. In Gesprächen mit den Erzieherinnen im Kindergarten fiel oft das Wort sensibel und auch ich selbst würde meine Tochter so beschreiben. Mara ist sehr emphatisch, sie hat einen großen Gerechtigkeitssinn und einen mega Wortschatz. Aber sie braucht ganz klare Strukturen, um zurecht zu kommen. Sobald sich im Kindergartenalltag etwas änderte, kam sie an ihre Grenzen.

Irgendwann stieß ich auf den Begriff Hochsensibilität und begann, mehr darüber zu lesen. In einem Buch gab es einen Test, bei dem man die zutreffenden Aussagen zum Verhalten des Kindes ankreuzen sollte. Die Trefferquote war sehr hoch. Trotzdem habe ich mich lange dagegen gewehrt, meine Tochter als hochsensibel zu bezeichnen. Ich wollte ihr keinen Stempel aufdrücken. Damit habe ich es ihr und mir unnötig schwer gemacht. Heute kann ich ihr Verhalten viel besser nachvollziehen. Ich bin geduldiger. Sage seltener: „Stell dich nicht so an“. Oder: „Das war doch gar nicht so schlimm“. Für Mara war ist es in dem Moment schlimm und das ist entscheidend.

In sieben Jahren kaum eine Nacht durchgeschlafen

Rückblickend hat sie schon als Säugling und Kleinkind typische Verhaltensweisen gezeigt. In der Spielgruppe hatten alle Kinder Spaß, die aufgebauten Spielsachen zu erkunden und mit den anderen Kontakt aufzunehmen. Mara blieb distanziert. Sie saß lieber auf meinem Schoß und beobachtete alles. Auf dem Rückweg vom Kurs war sie trotzdem total platt von all den Eindrücken. Außerdem hatte sie schon als Baby einen sehr leichten Schlaf. Beim kleinsten Geräusch schreckte sie hoch. Im Prinzip ist das bis heute so. In ihren sieben Lebensjahren hat sie kaum eine Nacht durchgeschlafen. Inzwischen weiß ich, dass die Reizverarbeitung nachts weitergeht und kann besser damit umgehen.

Eine laute Umgebung oder viele Menschen überfordern Mara schnell. Ganz schlimm sind Kindergeburtstage. Solange ich sie begleiten konnte, ging es noch einigermaßen. Aber seit dem fünften Lebensjahr feiern die Kinder eigentlich ohne Eltern. Zweimal bin ich trotzdem noch zu einer Feier mitgegangen. Es war schwer für mich, meine Tochter in diesen Situationen zu erleben. Sie war sehr angespannt. Alle anderen Kinder hatten Spaß und waren ausgelassen. Ich habe sie immer wieder ermuntert mitzuspielen, aber das hat es nur noch schlimmer gemacht.

Am Ende waren wir beide frustriert. Irgendwann habe ich gesagt: „Ich begleite dich nicht mehr, weil ich das Gefühl habe, dass es dir nicht gut tut. Du musst das alleine schaffen.“ Aber bislang fehlt ihr der Mut. Sie war auf keinem Kindergeburtstag mehr.

Was gut funktioniert, sind ihre Hobbys. Seit einer Weile geht sie mit ihrem Bruder zum Turnen, er gibt ihr viel Sicherheit. Außerdem hat sie Kinderyoga für sich entdeckt. Eine kleine Gruppe, ein ruhiges Programm – das ist genau Maras Ding. Ich kann während der Kursstunden nach Hause oder einkaufen gehen. Allerdings muss Mara immer genau wissen, wo ich bin und wann ich wieder komme.

Die Hochsensibilität bringt auch viele positive Eigenschaften mit sich. Mara ist zum Beispiel unglaublich einfühlsam im Umgang mit kleinen Kindern. Sie hilft anderen sehr gerne. Wenn es jemandem nicht gut geht, und sie nichts für ihn tun kann, ist das für sie eine Strafe. Sie hält sich streng an Regeln. So sehr, dass ich mir manchmal fast wünsche, sie würde auch mal eine brechen. Sie denkt über große Zusammenhänge nach: über den Tod, den Klimawandel oder wie Menschen miteinander verbunden sind. Manchmal stellt sie mir philosophische Fragen, die man so von keiner Siebenjährigen erwarten würde.

Nach der Einschulung muss sich die Familie Hilfe holen

Eine große Herausforderung war die Einschulung. Übergänge waren für Mara immer schon ein großes Thema. Am Anfang waren wir aber recht zuversichtlich. Ihr Kindergarten liegt direkt neben der neuen Schule, und einige Kinder aus ihrer Kindergartengruppe wechselten in dieselbe Klasse. Doch nach dem ersten Schultag merkten mein Mann und ich, dass Mara in großer Not war. Sie hatte Schwierigkeiten, den Tag durchzustehen. Vieles machte ihr Angst: der Lehrerwechsel, die großen Pausen, die Betreuung im Hort.

Zum ersten Mal merkte sie selbst, dass sie anders war. Sie fragte uns, wieso die anderen Kinder keine Angst haben. Warum sie nicht weinen, wenn sie in die Schule müssen. Unser Kind so hilflos zu sehen, hat uns Eltern emotional total gefordert. Das war der Moment, in dem wir uns externe Hilfe gesucht haben.

Ich habe eine Praxis in der Umgebung gefunden, die bei Hochsensibilität berät. Das erste Telefonat war vielversprechend. Drei Wochen nach der Einschulung kam eine Therapeutin zu uns nach Hause und hat mit Mara gesprochen. Das größte Problem zu dem Zeitpunkt war, dass Mara nicht in die großen Pausen ging. Die Klassenlehrerin hatte zum Glück Verständnis und erlaubte Mara, bei ihr in der Klasse zu bleiben oder auf einer Bank vor dem Lehrerzimmer zu warten. Aber das konnte keine Dauerlösung sein.

Die Therapeutin arbeitete mit Gefühlsmonsterkarten. Mara durfte sich die Monster aussuchen, die ihrer Meinung nach ihre Angst auslösen. Sie sollte sich überlegen, was diese Monster sagen. Mara schlug zum Beispiel „Ich schaff das nicht“ und „Das ist mir zu laut“ vor. Dann durfte sie sich ein Team von Monstern zusammenstellen, das ihr helfen sollte. Für sie hat Mara Sätze erfunden wie: „Ich bin nicht allein“, „Ich schaffe das“, „Daumen hoch“. Ich habe alle Sätze aufgeschrieben und die Monster fotografiert und später ausgedruckt. Die Bilder haben wir in ihr Mäppchen gesteckt.

Nach diesem Termin war Mara total gelöst und zeigte eine ganz neue Zuversicht. Die Gefühlsmonster haben sie noch sehr beschäftigt. Sie hat zum Beispiel einen Käfig für die Angstmonster gebaut und die mutigen Monster drum herum gestellt. Eine Woche später ging sie zum ersten Mal in die große Pause. Seitdem hat sie damit kein Problem mehr.

Das Wissen über Hochsensibilität hilft im Alltag

Durch die Beschäftigung mit dem Thema ist mir klar geworden, dass ich wahrscheinlich ebenfalls hochsensibel bin. In meiner Kindheit gab es diesen Begriff noch nicht, mein Verhalten wurde nicht groß reflektiert. Ich erinnere mich daran, dass mir manche Tage zu vollgepackt waren, Ausflüge schnell zu viel wurden. Oft hatte ich Bauchschmerzen, die von meinen Eltern meist nicht ernst genommen wurden. Ich hatte teilweise sehr heftige Gefühlsausbrüche. Bis heute fällt es mir manchmal schwer, meine Gefühle richtig wahrzunehmen und zu kommunizieren oder Grenzen zu ziehen. Ich bin froh, dass ich dieses Wissen über Hochsensibilität habe und meine Tochter besser begleiten kann. Ich versuche, ihr zu helfen, auf ihre inneren Bedürfnisse zu achten.

Ich erinnere mich gut an eine Szene im Sandkasten. Mara spielte, andere Kinder warfen mit Sand. Irgendwann rief sie: „Man darf nicht mit Sand werfen.“ Da sagte die Mutter der anderen Kinder: „Hör mal, du bist hier nicht die Sandkastenpolizei.“ Damals habe ich mich nicht eingemischt. Mara war nach diesem Satz total irritiert. Später habe ich versucht, ihr zu erklären, was die Frau gemeint hat. Heute würde ich das Gespräch mit der Mutter suchen und ihr sagen, dass es meiner Tochter einfach sehr wichtig ist, Regeln einzuhalten. Ich kann mich besser in Mara hineinversetzen.“

Foto: Gabby Orcutt/Unsplash

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